Im Café
Es ist ja nicht so, dass ich die Farbe Hellrot nicht leiden könnte, ich mag sie wirklich gern, aber nicht an mir selbst. Sie passt nicht zu meinen Sommersprossen, meiner hellen Haut und meinen roten Haaren.
Dennoch benutze ich im Sommer oft einen hellroten Lippenstift, wenn die Sonne mir besonders viele Sommersprossen gemacht hat. Und wenn ich meine Lippen in dieser Farbe anmale, fühle ich mich sexy, ein bisschen wie in einem Pornofilm, und das ist witzig. Manchmal.
Aber hellrote Kleider habe ich noch nie angezogen. Auch wenn ich finde, dass es nobel aussieht. Es gefällt mir gut. Für Damen zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren aus Hellerup. Aber die haben auch lange blonde Haare. Pferdeschwanz. Sind sportlich.
Ich habe keine blonden Haare, und wenn ich sie hätte, würde ich sie wohl rot färben. Ich finde meine Haarfarbe gut. Und wenn ich sie nicht färbte, würde ich trotzdem kein Hellrot tragen.
An einem Vormittag, als ich nicht arbeiten musste, fuhr ich mit dem Rad zum Café Rotunda. Das erinnert mich an ein Café in Blankenese. Seit ich wieder in Dänemark lebe, hab ich solche Cafés gern.
Sicher, damit ich einen festen Punkt habe. Damit ich mich nicht ganz in die dänische Kultur integriere. Nicht, dass ich so total scharf darauf gewesen wäre, in Hamburg zu wohnen. In all meinen Jahren dort wollte ich zurück nach Dänemark. Aber jetzt fehlt mir Hamburg manchmal, und deshalb gehe ich ab und zu ins Rotunda.
In Blankenese wohnen nur echte oder Möchtegern-Reiche. Und wenn ich ehrlich sein soll, dann könnte ich mir gut vorstellen, eine solche Dame aus Blankenese oder Hellerup zu sein. Bisweilen. Weil sie so abgeklärt wirken, voller Energie und Durchblick, und so anziehend in ihrem Outfit. Deshalb gehe ich oft in diesen Stadtteil, und deshalb besuche ich das Rotunda.
An diesem Tag saß ich im Café bei einer Tasse Kaffee. Neben mir stand ein Mann, der sich einen Latte Macchiato bestellt hatte. Er hatte ein Kind auf dem Arm, seinen Sohn. Er trug kein  hellrotes Hemd, aber er sah aus wie der Doppelgänger eines Mannes, den ich im Café in Blankenese gesehen hatte, und der immer ein hellrotes Hemd trug. Dieses Hemd hier war mintgrün. Ich konnte am Schnitt, es war körpernah, sehen, dass es von Diesel war. Genau wie das in Hamburg. Beide Männer trugen lockere, dunkle Jeans; weil das Hemd lässig über die Hose hing, konnte ich die Marke nicht sehen. Die dunkelbraunen Mokassins waren auch keine öde Dutzendware von Minnetonka, sie sahen aus wie Marc Jacobs.
Der Kleine auf seinem Arm sah aus wie der, der bei dem Mann in Hamburg auf dem Arm saß. Er trug grüne Gummistiefel von Helly Hansen, in die seine Jeans gesteckt waren. Der kleine weißrote Aufnäher mit dem dunkelblauen Strich oben und unten war deutlich zu sehen, denn der Pullover war an dieser Stelle ein wenig nach oben geschoben. Sicher aus demselben Grund. Aber damit nicht genug, diese Gummistiefel waren ein bisschen verschmutzt, man konnte also sehen, dass sie nicht erst vorgestern gekauft worden waren. 
Mir erschien das als Signal. Dem Jungen war es sicher egal, dem Vater dagegen nicht. Es war eine klare Mitteilung an die Umwelt, nämlich: „Wir sind reich, haben Haus, Garten und sind Mitglied im Yachtclub von Hellerup. Und ist es egal, wie andere über uns denken. Wir sind etwas Besonderes.“
Als ich diesen Mann und diesen Jungen im Café in Blankenese sah, verspürte ich den abenteuerlichen Drang, zum Tresen zu gehen, wo sie standen, noch einen Kaffee zu bestellen und gaaaanz aus Versehen den Mann anzurempeln, während er gerade seinen Cappuccino oder seinen Café au laut konsumierte, aber ich traute mich nicht.
Jetzt tu ich's, dachte ich, er würde doch nie im Leben auf die Idee kommen, dass alles geplant war.